Drei weise Magierinnen aus dem Farukanland

von Blue Sid

 

Selesha, farukanische MagierinArtwork von Florian Stitz

Selesha, farukanische Magierin
Artwork von Florian Stitz

„Mara? Ist Dir nicht wohl?“
Joros Frau spürte ein starkes Ziehen im Bauch, wollte ihren Mann jedoch nicht beunruhigen.
„Mir geht es gut, Liebster“, lächelte sie.
Joro hielt die Zügel des Esels, auf dem seine Frau saß, ein wenig fester. Der Schnee knirschte unter seinen Schritten.
„Vor ein paar Meilen habe ich einen Wegweiser nach Beltam gesehen. Das scheint das nächste Dorf zu sein. Vielleicht werden wir es noch vor der Dämmerung erreichen. Es kann nicht mehr weit sein.“
Mara stöhnte auf.
„Dir ist doch nicht wohl!“
„Schon gut, Liebster. Es war nur eine leichte Bewegung.“
Joro wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. Instinktiv wusste er, dass seine Frau heute Nacht niederkommen würde.

***

Ein paar Meilen entfernt…

Selesha schnaubte. Der Schnee unter ihren Füßen löste sich und rutschte den Abhang hinunter, den sie gerade erklomm. Ihre beiden Gefährtinnen Caspia und Balthea waren dicht hinter ihr. Selesha wusste zwar nicht genau, warum sie hier war – in einem Land fern ihrer Heimat – und Gebirgszüge überwand, von denen sie nicht wusste, was dahinter verborgen lag. Aber die Feuermagierin hatte das untrügliche Gefühl, dass sie und ihre magiebegabten Gefährtinnen hier gebraucht wurden.
Balthea hatte auf der gesamten Reise aus ihrer Skepsis darüber keinen Hehl gemacht.
„So! Mir reicht es jetzt.“ Die Windmagierin blieb stehen. „Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn Du uns nicht augenblicklich sagst, was zur verdammten Flaute wir hier zu suchen haben!“
Selesha verdrehte die Augen. „Ich weiß es nicht, bei den tausend glimmenden Mondsplittern!“
„Du weißt es nicht und Du wusstest es nicht als wir loszogen und Du wirst es auch immer noch nicht wissen, wenn wir dort angekommen sind, wo wir ankommen wollen … wo auch immer das sein mag!“ Baltheas Miene hatte sich verfinstert.
„Wir werden es sehen, wenn wir da sind. So funktioniert das eben mit einer Prophezeiung!“, feuerte Selesha zurück.
„Das erzählst Du uns schon seit dieser vermaledeiten Überfahrt über die Kristallsee. Vorher hast Du uns etwas vollkommen anderes erzählt.“
„Ich habe Euch über einige Aspekte unserer Reise im Unklaren gelassen, ja. Aber …“
„Aber was?! Kommt jetzt die nächste Ausrede, die nächste Lüge?“, ging Balthea in die Luft.
Selesha spürte Zornesröte in ihren Wangen brennen. Mühsam unterdrückte sie den Impuls, nach ihrem Flammenszepter zu greifen.
„So langsam denke ich, Balthea hat recht. Das hier führt zu nichts. Wir erfrieren hier noch“, plätscherten Caspias Worte dazwischen.
„Als ob DIR das etwas ausmachen würde!“, flammte Selesha auf.
„Nur, weil ich Wasserzauberei beherrsche? Du hast da etwas nicht verstanden, Selesha. Ich kann Dinge einfrieren. Für das Auftauen bist Du zuständig.“
„Das reicht!“ Selesha zog ihr Szepter. „Wenn Dir kalt ist, Caspia, kann ich abhelf…“
„Schluss damit!“ Balthea zuckte mit ihrem Finger durch die Luft und ein Blitz schoss aus ihrer Hand.
Selesha und Caspia duckten sich. Der Blitz fuhr haarscharf an ihren Köpfen vorbei in ein schneebedecktes Gestrüpp am Wegesrand. Begleitet von einem quiekenden Geräusch torkelte ein schwer verletzter Rattling aus dem kargen Unterholz, gefolgt von vier seiner Gefährten.

***

Einen Feuerstrahl, eine Eislanze und einen weiteren Blitzschlag später …

„Ach, lass den letzten laufen.“ Selesha winkte ab. „Dann kann er seiner Bande erzählen, dass es nicht lohnt, uns anzugreifen.“
Caspia ballte die Faust, verzichtete aber darauf, weitere magische Energie an den letzten kleinen Plagegeist zu verschwenden, der hinter der nächsten Baumgruppe Reißaus nahm.
Selesha sah Balthea glühend an. „Wie hast du gewusst, dass …“
„Der Schnee auf dem Unterholz war nicht so gleichmäßig verweht wie auf den Bäumen. Da war mir klar, dass etwas im Busch sein musste, im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Das soll ihnen eine Lehre sein.“, loderten Seleshas Worte, während sie ihren Marsch wieder aufnahmen.

Balthea machte einen versöhnlichen Gesichtsausdruck. „Selesha, es tut mir leid. Du weißt, dass ich dir vertraue. Aber du hast uns von Anfang an über diese Reise im Unklaren gelassen. Dann erzählst du manchmal von dieser seltsamen Bardin, die du einmal getroffen hast und ich weiß überhaupt nicht woran ich bin. So kenne ich dich gar nicht. Ich weiß gar nicht, ob du schon einmal hier warst oder dieses Land nur aus Erzählungen kennst. Und hat dir diejenige, die davon erzählt hat, nicht vielleicht einen Lamassu aufgebunden? Und was ist das für eine Prophezeiung? Wie genau lautet s… ?“
„Ich folge einem Stern!“, schoss es aus Selesha heraus.
„Was?“, stimmten Caspia und Balthea im Chor an.
„Ja, ich folge einem Stern.“
„Du schleppst uns hunderte von Meilen von unserer Heimat entfernt über verschneite Hügel und Berge, wegen eines Sterns?“, fragte Balthea atemlos. „Du hast überhaupt keine Ahnung von Sterndeutung!“
„Das stimmt nicht.“
„Doch, das stimmt. Ich kenne mich beispielsweise viel besser aus, als du.“
„Ach ja? Warum hast du dann nicht gemerkt, dass ich einem Stern folge?“ Selesha stand kerzengerade da und stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Habe ich ja. Ich dachte nur nicht, dass du nur Luft im Kopf hast und dich auf so einen Humbug einlassen würdest. Und was ist das jetzt für eine Prophezeiung?“
Selesha wog ihre Hand hin und her. „Das Orakel von Ioria ist wie eine Flammenzunge, springt bald hier, bald dorthin und ist niemals eindeu…“
„Jetzt sprich endlich!“ Das Gesicht der Luftmagierin strahlte eine düstere Atmosphäre aus.
Wie kleine Glutbrocken spie Selesha nun wütend jedes einzelne Wort der Prophezeiung aus:
“Folge dem Lichte mit Stille und Weil.
Folge dem Lichte voll Grazie und Anmut.
Im Lichte finde Freude und Heil.
Denn Licht ist das höchste Gut.“

Balthea stand regungslos da. Ein Hauch der Fassungslosigkeit entwich ihrem Mund.
„Das ist jetzt nicht wahr. Das soll eine Prophezeiung sein? Das ist doch nur heiße Luft.“
„Schluss jetzt. Nun sind wir hier und bringen die Sache zu Ende.“, brach es schwallartig aus Caspia hervor.
Selesha lächelte triumphierend. „Richtig.“

***

Inzwischen waren sie ein gutes Stück weitergereist und hatten gar nicht bemerkt, dass sie mitten in einer Schafherde standen. Etwas entfernt klingelte ein Glöckchen, das der Schäfer an seinem Stab befestigt hatte, mit dem er den Hirtenhund führte.
„Welcher Stern ist es denn nun?“ Baltheas Stimme klang immer noch ungehalten.
Selesha schaute zum Himmel. „Er ist weg!“ Die Feuermagierin verengte die Augen zu kleinen Schlitzen und suchte den Himmel ab. „Gerade eben war er doch noch da! Das ist nur eure Schuld.“
„Wir könnten ja fragen“, schlug die Wassermagierin vor. „Schaut! Dort vorne ist ein Stall. Vielleicht gibt es dort eine Magd oder einen Stallburschen.“
Caspia ging zum Stalltor, das einen Spalt offenstand, und steckte die Nase hinein.
„Hallo? Ist da jemand?“ Ihre Worte tröpfelten vorsichtig in die Stallgasse und wurden von einem Stöhnen beantwortet.
„Hiiiiiiäääaaaaa!“, dröhnte ihr der Laut eines Esels entgegen.
„Mmmmnöööööuuuuuu!“, tönte ein Ochse.

„Hier kommen wir nicht weiter!“, rief sie zu ihren Gefährtinnen zurück. „Dort vorne beginnt ein Dorf. Vielleicht wissen die, wo dein Stern …“ Caspias Worte verebbten in der kalten Winterluft, als hinter dem Stall plötzlich ein Licht erglomm und dem eher armseligen Gebäude einen mystischen Glanz verlieh.
Die drei Magierinnen aus dem Farukanland erschraken zuerst, dann aber überkam sie alle ein wärmendes, wogendes, knisterndes Hochgefühl.
Selesha hob mit großem Gestus beide Arme. „Wir sind da.“

Aus dem Stall kam plötzlich der laute Schrei einer Frau. Mit einer fließenden Bewegung stürzte Caspia zur Stalltür zurück, riss sie auf und lief hinein. Die anderen beiden stürmten hinterher.

Hinter dem Esel entdeckten sie auf einem Strohlager eine Frau mit einem dicken Bauch. Daneben hockte ein Mann, der hilflos ihre Hand hielt. Er blickte die drei Frauen an.
„Bitte helft uns. Meine Frau Mara soll niederkommen, aber irgendetwas ist nicht in Ordnung.“
Selesha riss sich sogleich ein paar Fetzen aus dem Gewand und nahm einen Eimer aus dem Verschlag mit dem Ochsen, was dieser mit einem gelangweilten Muhen quittierte.
Während Balthea sich zu Mara begab und ihr zeigte, wie sie atmen konnte, kümmerten sich Selesha und Caspia um heißes Wasser.

Die Rückwand des Stalls wies eine Vielzahl von kleinen Ritzen auf, durch die das seltsame Licht drang und den drei Magierinnen eine gute Sicht bescherte. Plötzlich schwirrten kleine geflügelte Feenwesen umher. Sie trugen weiße Gewänder und über ihren Köpfen einen Ring aus Licht. Eine blonde Lockenpracht umgab ihre kleinen Gesichter. Selesha bemerkte, dass sie durch die Ritzen in der Wand kamen. Ein Dutzend von ihnen flog bereits im Raum umher und füllte diesen mit einem ätherischen Gesang. Ein paar von ihnen zogen unter ihren Gewändern kleine Trompeten und Posaunen hervor und begleiteten die Choräle damit.
Balthea wehte herbei: „Siehst du das, Selesha? Dein Stern ist ein Feendurchgang. Allerdings habe ich noch nie einen gesehen, der durch die Luft reisen und sich an einem Platz niederlassen kann. Vielleicht sind wir hier für die Niederkunft.“
Caspia wischte den Schweiß von Maras Körper. „Balthea, Selesha! Schaut einmal hier.“
„Ein Flimmern umschmeichelt sie“, bemerkte die Luftmagierin.
„Sie leuchtet immer wieder auf“, setzte die Feuermagierin hinzu. „Gebiert sie ein Feenwesen?“

Inmitten dieser Gedanken bemerkte Selesha einen Schatten, der das Leuchten hinter dem Stall plötzlich verdunkelte. Die Flimmerfeen, die immer noch im Stall umherflogen, machten entsetzte Gesichter, und ihre Musik verstummte augenblicklich. Binnen weniger Momente wuchs der Schatten an, und eine riesige schwarze Pranke durchschlug plötzlich die hintere Stallwand.
„Der Lichträuber, der Lichträuber!“, wisperten die kleinen Flimmerfeen.
Eine große, finstere Gestalt mit sechs Augen, sechs Mäulern und sechs Pranken brach durch die berstende Wand in den Raum. Splitter flogen umher. Die Pranken waren mit rasiermesserscharfen Klauen bewehrt. Gierig näherte der Lichträuber sich der gebärenden Mutter.

Geistesgegenwärtig sprangen Selesha und ihre Gefährtinnen dazwischen und konzentrierten sich auf ihre Zauber. Selesha hob ihr Flammenszepter, und ein Feuerstrahl schoss dem Lichträuber direkt in die Augen. Caspia erzeugte eine spiegelglatte Eisfläche, auf der die Feenbestie ausrutschte, als Balthea ihm einen magischen Luftstoß versetzte.
Das finstere Feenwesen sprang jedoch sofort wieder auf, als würden die Gesetze der Schwerkraft nicht für es gelten, und warf sich mit infernalischem Geschrei auf die drei Magierinnen. Caspia wurde von zwei Pranken kurz hintereinander hart getroffen und sank zu Boden. Balthea sprang zu ihr und begann einen Heilzauber zu sprechen.
Selesha sah sich dem Dunkelwesen allein gegenüber, das offensichtlich magische Kraft zusammenzog um einen mächtigen Zauber zu wirken. Dann schoss ein dunkler Strahl auf den Bauch der Schwangeren zu, und sofort begann ihr Leuchten zu verblassen.
Ohne zu zögern warf sich Selesha in den Strahl aus stechenden Schatten und konzentrierte sich auf die Gedanken in ihrem Geist. Augenblicklich umfing sie Dunkelheit …

***

„Selesha, Selesha!“, hörte sie eine Stimme sagen.
Sie stöhnte auf. In dem Stall war es still. Sie konnte sich kaum bewegen. „Was … was ist passiert?“
„Der Lichträuber war sehr geschwächt, nachdem Du seinen Zauber abgefangen hattest“, plätscherten Caspias Worte sanft an ihr Ohr.
„Es war danach für Caspia und mich möglich, ihn zu besiegen“, hauchte Balthea dazu.

Selesha blinzelte und sah sich um. Das Neugeborene lag zufrieden an der Brust seiner Mutter.
Sie blickte durch die offen stehende Stalltür nach draußen. Ein Regen blau schimmernder Gesteinssplitter ging vor dem Stall nieder.