Die Katarakte von Gondalis

von Franz Janson

 

Artwork: Mertalische Leibwächterin

Artwork:
Mertalische Leibwächterin

Raus! Nur weg von hier!
Ihr Klient lag in seinem Blut – Keiras Ruf als Protector war zerstört.
Die Stadt verlassen, am besten noch heute!
In Gondalis, ja, im gesamten Mertalischen Städtebund würde man ihr nicht mehr vertrauen.
Ihr Körper wollte in alle Richtungen gleichzeitig fliehen, doch schnell übernahmen ihre antrainierten Instinkte die Kontrolle: Sie musste sich sammeln und einen kühlen Kopf bewahren.

Wenn ihr Klient nun irgendjemand gewesen wäre, einer der vielen Kaufherren etwa, die man beschützen musste, wenn sie Gondalis besuchten, um es sich einige Tage in den Spielhallen und Thermen der Stadt gutgehen zu lassen. Auch das hätte ihrer Reputation geschadet, aber es wäre wohl schnell Gras über die Sache gewachsen, und sie hätte sicher bereits im nächsten Monat neue Aufträge in Aussicht gehabt.

Unglücklicherweise war ihr letzter Klient aber Elkan Gradonios gewesen, einer der gefürchtetsten Männer von Gondalis. Der Anführer der Rothände hatte über viele Jahrzehnte nicht nur das illegale Glücksspiel im Hafenviertel, sondern beinahe die gesamte Unterstadt kontrolliert. Kaum ein Bordellbetreiber, Traumsalzhändler oder Hehler, der nicht seinen Tribut an den Patron und seine gnadenlosen Geldeintreiber abzuliefern hatte – ja selbst die Fleischer, Bäcker oder Krämer mussten regelmäßig Schutzgeld zahlen, um die Unversehrtheit ihrer Läden zu gewährleisten.

Keira hatte sich etwas gefangen, doch sie musste immer noch schnell diese Villa verlassen, die in den letzten Stunden so viel Blut gesehen hatte. Die Frage war nur, wie? Die Mörder waren noch im Haus und den Getreuen des Toten sollte sie in dieser Situation auch besser nicht in die Arme laufen.
Sie lief einige Schritte den Gang hinab, doch dann hörte sie von unten Kampflärm. Der direkte Weg war also versperrt!

Also huschte Keira zurück in den Salon. Sie würdigte die blutüberströmte Leiche keines Blickes, als sie sich an der Wandtäfelung zu schaffen machte. Routiniert fand sie den kleinen Hebel unterhalb der Zierleiste und war schnell im Geheimgang verschwunden, der sie zur hinteren Dienstbotentreppe bringen würde – es hatte seine Vorteile, jahrelang für die Sicherheit des Hausherrn verantwortlich gewesen zu sein.

Sie war gerade am unteren Treppenabsatz angekommen, als sie aufgeregtes Gemurmel hörte. Schnell erkannte sie die Stimmen von Luano und Stibor, zwei kleine Lichter in der Organisation der Rothände, die das Anwesen offensichtlich von hinten sichern sollten.

Die Stimmen wurden lauter, also drückte sich Keira rasch in eine Nische neben einer großen Kommode drevilnischer Fertigung. Wie es ihr vor vielen Jahren der gute Varenkin beigebracht hatte, murmelte sie die uralten mystischen Silben und schloss die Augen, um mit den Schatten zu verschmelzen. Ihre magische Begabung war nur schwach ausgeprägt, doch für diesen Kniff völlig ausreichend.

Als Luano und Stibor an ihr vorbei gepoltert waren, wartete sie noch einem Moment, dann öffnete sie wieder die Augen und hastete zum Hintereingang hinaus. Still dankte sie ihrem alten Mentor – wieder einmal hatten ihr seine Lektionen im entscheidenden Augenblick die Haut gerettet.

Der direkte Weg hinab von den Alabasterhöhen in die Unterstadt führte über die gepflasterte Prachtstraße, die sich in Serpentinen die Klippen hinunterwand. Gewöhnlich hatte Keira zwar stets die beschwerlichere Route durch die Hohlwege und Kavernen des Rachens bevorzugt, um ihren Klienten sicher und ungesehen von seinem Anwesen zu „Geschäftsterminen“ im Hafenviertel zu geleiten, doch momentan schien ihr die offene Straße die bessere Wahl zu sein: Mit Einbruch der Nacht begann das übliche turbulente Treiben auf den Gassen und Plätzen von Gondalis. Zwischen den lautstarken Ausrufern vor den Gaststuben und Freudenhäusern, den windigen Geschäftemachern an den Hausecken und den vergnügungssüchtigen Besuchern der Stadt würde sie nicht weiter auffallen. Keira griff sich von einem Stand einen weiten Mantel und warf ihn sich um die Schultern. Der Verkäufer grunzte nur kurz in seinem Nickerchen. Kein Zechkumpan und keine verflossene Liebschaft sollte sie heute erkennen.

Keira war keine Unbekannte in der Stadt – für den Anführer der Rothände zu arbeiten, brachte einen gewissen Ruf mit sich. Zudem musste sie als Protector die Stadt wie ihre Westentasche kennen, denn sie hatte für den Schutz ihres Klienten zu sorgen, gleich ob er eine private Unterhaltung in den Alleen der Alabasterhöhen führte oder schmutzige Geschäfte in den dunkelsten Ecken des Hafens zu erledigen hatte.
Das ein oder andere Mal hatte aber auch ihre gute Ortskenntnis nicht ausgereicht und sie hatte Gradonios mit blanker Klinge verteidigen müssen. Wie damals, als Rasima, die rechte Hand des Patrons, ihn nach einer Lagebesprechung in den Kellergewölben des Schmutzigen Eimers hinterrücks erdolchen wollte, um sich selbst an die Spitze der Rothände zu setzen. Die verräterische Schlampe hatte einen Moment zu lange gezögert und Keira hatte sich vor ihren Klienten werfen können und den Dolchstoß abgefangen. Das anschließende Gefecht war trotz der schmerzenden Wunde in ihrer Flanke schnell vorbei gewesen und Rasima hatte die gerechte Strafe für ihr Aufbegehren erhalten.
Kurzum: Der bisherige Ruf des Patrons, in seiner Position unangreifbar zu sein, war zu einem guten Teil auch Keira zuzuschreiben gewesen, wie sie es in vertrautem Kreise stets gern erwähnt hatte.

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